„Eignet sich Ursula von der Leyen als Rollenmodell für aufstiegsorientierte Männer und Frauen? Durchaus“, schrieb die „Wirtschaftswoche“ vor gut einem Jahr über die Eigenschaften der „Super-Managerin“ von der Leyen, die damals nicht ohne die Hilfe der Bundeskanzlerin zur EU-Kommissionspräsidentin gewählt wurde. Ihre „nachahmenswerten“ politischen Erfolge, hieß es, seien ihrer fehlenden Angst vor den Gegnern, ihrer kommunikativen Geschwindigkeit, der Motivation durch die eigene Biographie und „Loyalität über alles“ - vor allem gegenüber Merkel - zu verdanken. So weit, so gut - als hätte es keine Berateraffäre im Verteidigungsministerium von der Leyens gegeben.
Als der 1. Untersuchungsausschuss des Verteidigungsausschusses, auf Antrag von FDP, Grünen und Linken Anfang 2019 eingeleitet, die Berateraffäre untersucht hatte, kam die GroKo-Mehrheit zu dem Schluss, dass die Vorgängerin von Annegret Kramp-Karrenbauer von unzähligen Berater-Deals nur wenig gewusst habe und Fehler auf unterer Ebene passiert seien - also wurde die CDU-Politikerin praktisch freigesprochen. Die Opposition ließ sich aber damit nicht einlullen - und hat nun ein gemeinsames Sondervotum vorgelegt, welches das Leben der Chefin von Brüssel erschweren dürfte. Das 115-seitige Dokument, das auch Sputnik vorliegt, bringt das mutmaßlich komplette Versagen der damals Hauptverantwortlichen im Verteidigungsministerium auf den Punkt.
Zwar bringt es keine komplett neuen Details in der Affäre ans Licht. Es ist aber nach wie vor klar: Unter von der Leyen und ihrer damaligen Staatssekretärin, der Ex-McKinsey-Beraterin Katrin Suder, wurden externe Berater freihändig beauftragt und haben nach eigenen Interessen geschaltet und gewaltet. In ihrem Freispruch von der Leyens spare die GroKo aber „wesentliche Erkenntnisse der Untersuchung aus oder verharmlose diese“, heißt es wörtlich. Der SPD als Koalitionspartner der Union wird übelgenommen, nach kritischen Nachfragen die Vorgänge letztendlich „im Sinne der Union mitbagatellisiert“ zu haben.
Von der Leyen persönlich wird im Sondervotum vorgehalten, die Augen vor den umstrittenen Abläufen verschlossen zu haben, die eingegangenen Beschwerden der Mitarbeiter „freundlich zur Kenntnis genommen“, aber nichts dagegen unternommen und der Untersuchung „Steine in den Weg“ gelegt zu haben - wie etwa schon bei der Vernichtung von Beweisen durch das Löschen der Diensthandys zu dem Zeitpunkt, als der Ausschuss die Sicherung aller Belegmittel eingefordert hatte.
Übrigens heißt es im Dokument:
Die Opposition weist weiter darauf hin, dass die Ex-McKinsey-Beraterin Suder einen alten Bekannten mit seiner Firma Accenture an allen Vergabeverfahren vorbei unter die Arme gegriffen habe.
Vor der Einsetzung des Untersuchungsausschusses wies die 61-Jährige ihre politische Verantwortung für die Vorgänge in der Berateraffäre zwar nicht zurück. Jedoch waren es bei ihr die anderen, die „Nachlässigkeit, Abkürzung, Einzelversagen und auch Überforderung“ gezeigt hätten. Dem, dass Fehler nur auf unteren Ebenen oder höchstens bei Staatssekretären passiert seien, widersprechen ihre Kritiker. Die Gesamtverantwortung der Ministerin dürfe man nicht „herunterspielen“, denn sie habe weder für Transparenz gesorgt noch ein adäquates Kontrollsystem eingesetzt, um die offensichtlich korrupten Geschäfte zu vermeiden. Ganz im Gegenteil: Von der Leyen habe nach ihrer Amtsübernahme im Verteidigungsministerium Weichen gestellt und Entscheidungen getroffen, die das Ministerium und seinen nachgeordneten Bereich für die im Rahmen der Berateraffäre zu beklagenden Rechts- und Regelverstöße in besonderem Maße anfällig gemacht hätten. Vor allem im Fall mit der Abteilung für Cyber/ IT (CIT) habe von der Leyen einen „bedenklichen Führungsstil“ demonstriert. Die Ministerin habe Entscheidungen getroffen, aber offenkundige Probleme nicht mitgedacht. „Sie wollte schnelle Ergebnisse und schnelle, vorzeigbare Erfolge, hat sich mit Fragen der Umsetzung aber nicht beschäftigt.“
Was heißt das solide deutsche Ministerium, das laut Bundeshaushalt rund 45 Milliarden Euro pro Jahr verwaltet, wenn nicht ein Chaos? Laut der Pressesprecherin Birgit Landskron muss sich der Untersuchungsausschuss mit dem Bericht der Opposition „erst noch befassen“. Ein Abschlussbericht komme erst nach der Sommerpause. Von der Leyen ihrerseits darf allein beim EU-Haushalt jährlich rund 150 Milliarden Euro weiter verwalten - allerdings zusammen mit dem EU-Parlament und dem Europarat. Mit dem Corona-Hilfspaket der EU in der Höhe von 750 Milliarden Euro setzt sich die Top-Managerin noch ambitioniertere Ziele. Alte Vorurteile müssten dabei beiseitegelegt werden, warb sie Ende Mai vor dem wegen Corona weitgehend leeren EU-Parlament. Es bleibt offen, ob die „Vorbildsfrau“ von Brüssel letztendlich selbst von „Nachlässigkeit, Abkürzung, Einzelversagen und auch Überforderung“ verschont bleibt.