Die Immunität stellte sich ein. Es wurden keine negativen Auswirkungen festgestellt. Alle leben, sind gesund und freuen sich. Bei den Testpersonen wurden protektive, schützende Antikörper festgestellt, die das Coronavirus neutralisieren. Bei einem positiven Ausgang der vorklinischen Versuchsetappe werden die Forscher bereits im Juni beim Gesundheitsministerium die Genehmigung beantragen, den Impfstoff an Freiwilligen zu testen.
Jedoch forderte Ginzburg auf, dies nicht als Tests aufzufassen. Der Schutz seiner Mitarbeiter sei für die Fortsetzung der Forschung notwendig gewesen, um das Risiko ihrer Selbstisolation auszuschließen. „Der Verlust eines jeden Mitarbeiters würde die Arbeit im Ganzen aufhalten. Da sie wussten, was sie entwickeln, haben sie diesen Schritt ganz bewusst getan.“
Er hofft, dass man mit dermassenweisen Impfung Anfang Herbst beginnen kann, und ihre Skalierung beim Best-Case-Szenario sieben bis neun Monate in Anspruch nehmen wird. Der Impfstoff werde nicht für alle ausreichen, so Wiktor Sujew, Virologe des Gamaleja-Zentrums und Leiter der Abteilung für Mikrobiologie und latente Infektionen. „Es genügt nämlich nicht, den Impfstoff herzustellen, auch nicht, ihn ganz ungefährlich zu machen, sondern er muss auch noch wirksam sein. Ferner muss man ihn in einer ausreichenden Quantität produzieren.“
In erster Linie seien Menschen zu impfen, so der Experte, die zur Risikogruppe gehören, das seien Ärzte, die mit nachgewiesenen Infizierten arbeiten würden, auch medizinisches Hilfspersonal der Krankenhäuser sowie Notfallteams und Krankenwagenfahrer. Ferner würde er Ehrenamtliche und Kassiererinnen in Lebensmittelgeschäften dieser Gruppe zuordnen, generell alle, die von Amts wegen mit vielen Menschen kontaktieren. Der Virologe betonte, dass die Impfung beim aktuellen Entwicklungsstand der Medizin das effizienteste Bekämpfungsmittel gegen das Virus sei.
Ein weiterer Mitarbeiter des Forschungsinstituts, Artjom Tkatschuk, berichtete von dem Impfstoff selbst: „Es ist ein zukunftsträchtiger viraler Vektor, basierend auf der DNA des Adenovirus, in die das Gen des Coronavirus SARS-CoV-2 eingebaut worden ist. Das Adenovirus wird als ‚Behälter‘ verwendet, in dem das Gen des Coronavirus in die Zellen transportiert wird. Dort soll es die Eiweißsynthese für die Hülle des neuen Coronavirus auslösen und auf diese Weise das Immunsystem mit dem potenziellen Gegner ‚bekanntmachen‛. Impfstoffe gerade dieser Art nennt man Vektoren. Die technologische Plattform, auf welcher unser Impfstoff basiert, haben wir seit mehreren Jahren erforscht. Sie zeichnet sich durch gute Verträglichkeit und hohe Effizienz aus.“
Auch Alexander Ginzburg teilte mit, bei den vorklinischen Tests an Kleintieren sei ein gutes Ergebnis erzielt worden. „Die akute und chronische Toxikologie ist untersucht worden. Im Moment werden die Experimente an niederen Primaten zu Ende geführt, also an Halbaffen, wobei, Gott sei Dank, vorläufig gute Ergebnisse herauskommen, hinsichtlich sowohl der Immunogenität als auch der Sicherheit.“
Die Auswahl der Freiwilligen für die klinische Studie läuft bereits. Die Forscher sind an Menschen zwischen 18 und 55 Jahren interessiert, die bisher nicht an Coronavirus krank gewesen sind. Den Teilnehmern der klinischen Forschung werden Entlohnung und Risikoversicherung angeboten. Der Impfstoff setzt sich aus zwei Komponenten zusammen. Die erste Dosis wird intramuskulär und die zweite 21 Tage später verabreicht. Dies genügt, damit sich die Immunität komplett herausbildet.
Die Wissenschaftler gestehen, nicht bei Null angefangen zu haben. Vor einigen Jahren hatten sie einen Ebola-Impfstoff entwickelt und erfolgreich eingesetzt. Anschließend schufen sie ein Präparat gegen MERS (atypische Pneumonie), ein nahöstliches respiratorisches Syndrom, das dem COVID-19 am nächsten verwandt ist. Auf diesen Entwicklungen basiert auch der Corona-Impfstoff.
Neu ist dabei laut Ginzburg das Herstellungsverfahren. „Es kann als revolutionär bezeichnet werden, es wurde früher nicht angewendet. Wir haben nicht etwa das abgeschwächte Virus, sondern nur ein Stück von ihm genommen. Das ist ungefährlich und sehr effizient. Indem wir eine Person impfen, zeigen wir dem Immunsystem einen Teil des Virus, wie man einem Diensthund einen Gegenstand mit typischem Geruch zum Beschnüffeln hinhält. Danach weiß die Immunität von selbst, was genau sie zu entdecken hat.“
Die Abwehrzellen gehen gleich Suchhunden dem Ruhestörer auf die Spur. In diesem Fall werden alle Arten der Immunantwort aktiviert. Die einen Schützer, Antikörper, sind für die Vernichtung des Gegners zuständig, die anderen, T-Lymphozyten, prägen sich sein Aussehen fleißig ein, um ihn künftig sofort zu erkennen und zu töten. Allerdings ist den Forschern vorläufig nicht klar, ob eine einzige Impfung für den Rest des Lebens hinreichen wird.
„Man hat den Eindruck, dass er nicht so schnell mutiert, wie etwa das Grippevirus, und deshalb wird der Impfstoff höchstwahrscheinlich funktionieren“, erläutert Grigori Jefimow, Laborchef am Nationalen medizinischen Forschungszentrum für Hämatologie. „Doch müssen die Studien erst zeigen, ob die Virusfragmente, die in ihm enthalten sind, tatsächlich für eine zuverlässige Immunität sorgen.“
Die Effizienz des Präparats wollen die Wissenschaftler an genetisch veränderten Mäusen testen. Diese Nagetiere wurden bereits am Institut für Genbiologie gezüchtet. Zwei menschliche Gene machen sie gegen COVID-19 empfindlich. Und die Erkrankung bei ihnen verläuft so wie bei Menschen. Man rechnet damit, mit diesem Modell zuverlässige Ergebnisse schnell erzielen zu können, da für die Studie eine große Zahl von Tieren bereitstehen wird.
Gar nicht gefährlich, behauptet Alexej Masus, Mitglied im Klinischen Komitee für die Bekämpfung des Coronavirus und Chef des Moskauer Zentrums für AIDS-Vorbeugung und -bekämpfung. Es gehe nämlich nicht um einen neuen Impfstoff, sondern um eine neue Verwendung der bestehenden Plattform.
„Es gleicht der Sojus-Rakete, die einst von Sergej Koroljow entwickelt wurde. Sie fliegt erfolgreich schon seit mehreren Jahren. Die Plattform ist eine Art Rakete, die man nicht immer zu testen braucht. Die Idee ähnlicher Impfstoffe liegt darin, dass ihre Plattformen völlig unterschiedlichen Viren angepasst werden können. Man wechselt sie, wenn die eine oder andere Gefahr aufkommt, wie jetzt. So ein viraler Vektor ist eben am Gamaleja-Institut entwickelt worden. Er ist nicht der erste, sondern bereits der vierte auf dieser Plattform.“
Gewöhnlich braucht man etwa fünf Jahre für die Entwicklung und Einführung eines Impfstoffs in der klinischen Praxis. Die russischen Forscher haben es innerhalb von 2,5 Monaten geschafft. Einen ähnlichen Impfstoff gibt es auch in Oxford. Dieser gilt heute als weltweit zukunftsträchtigster. Ein Unternehmen hat bereits mit seiner Skalierung begonnen, ohne den Abschluss der Prüfungen abzuwarten. Es geht um einige Millionen Dosen, die bereits gegen Herbst fertig sein sollen.
Weltweit wird an gut 100 Präparaten gearbeitet. Dabei hat man sich nur bei acht entschlossen, sie an Menschen zu testen. „Es sind Entwicklungen amerikanischer, britischer und chinesischer Fachleute“, so Larissa Popowitsch, Leiterin des Instituts für Ökonomie des Gesundheitswesens: „Die Briten sind zurzeit den Amerikanern etwas voraus, weil ihr Verfahren ganz neu ist, und die Amerikaner sind deshalb sauer. Im Unterschied zu den Amerikanern benutzen die Briten ein Standardverfahren, das dem russischen und dem chinesischen ähnlich ist. Ob es auch funktionieren wird, steht im Moment noch nicht fest. Es handelt sich ja überhaupt um eine genetische Modellierung.“
Die britischen und die chinesischen Wissenschaftler beabsichtigen, ihre Entwicklungen gegen Jahresende abzuschließen. Die amerikanischen Forscher planen es erst für den Sommer 2021. Was bekommt aber derjenige, der dieses Rennen gewinnt? Der Einsatz ist hoch, gibt Larissa Popowitsch zu: „Sicher wird diesen Impfstoff die ganze Welt kaufen, verängstigt durch die Ausbreitung des COVID, und der größte Vertrag geht an den Gewinner. Zweifellos finden die nachfolgenden einen mit Abstand kleineren Absatz, bis die Welt die Wirksamkeit der verschiedenen Impfstoffe gegeneinander abwägt. Der Gewinner kann einen beliebigen Preis ansetzen, weil die Furcht der Menschen sehr groß ist. Es ist völlig unklar, wie die Wirkungszeit des Impfstoffs sein wird, vielleicht so wie bei denen gegen Grippe, sodass man jährlich geimpft werden muss“.
Neben beträchtlichen Geldsummen steht auch das Ansehen auf dem Spiel. Wer möchte nicht als der Sieger über eine Pandemie in die Geschichte eingehen, die einige hunderttausend Menschenleben gefordert hat? Allerdings warnen die Mediziner vor übereilten Prognosen und erinnern an den Ausbruch der atypischen Pneumonie von 2003. Damals war der Impfstoff entwickelt und sogar an Tieren getestet worden, als die Epidemie bereits abflaute.