Symbolbild: Ein irakischer Soldat geht an einer Wand vorbei, auf der die schwarze Fahne des IS aufgemalt ist (Mossul, 21. Januar 2017)
von Rainer Rupp
Teil I können Sie hier nachlesen.
Vor fast genau 10 Jahren hatte sich die Regierung in Bagdad standhaft geweigert, mit den Aggressoren in Washington ein Abkommen zur dauerhaften US-Truppenstationierung abzuschließen. Deshalb sah sich die Obama-Administration gezwungen, die US-Armee aus dem Irak abzuziehen. Zum Ende des Jahres 2011 hatten so gut wie alle US-Militäreinheiten das Land verlassen.
Weil es Obama nicht gelungen war, eine permanente US-Militärpräsenz im Irak zu sichern, war er von den Kriegstreibern bei "Republikanern" wie "Demokraten" in den folgenden Jahren immer wieder scharf attackiert worden. Wie konnte man sich eine fette Beute wie den Irak einfach so entgehen lassen? Das war der Tenor.
Schließlich hatte Dick Cheney, Vize-Präsident unter dem Obama-Vorgänger George W. Bush, bereits im Jahr 2002 formuliert, dass nach dem gewonnenen Krieg der Irak zu einer "US-Plattform für umfassende Reformen in der ganzen Region" gemacht werden soll. Vor allem den Iran, Syrien und Libyen hatte er dabei im Visier, wofür er auf Landkarten bereits die lukrativen Öl-Lizenzen für US-Energieunternehmen vermerkt hatte. Seither hat sich in der Sichtweise Washingtons am strategischen Stellenwert des Irak nichts geändert:
Der "Verlust" des Irak blieb in den Jahren nach dem Abzug für die US-Imperialisten eine eiternde Wunde, was immer wieder zu wütenden Angriffen gegen Obama führte. Doch dann kam die Wende. Die bis dahin abweisende Maliki-Regierung in Bagdad wurde plötzlich unterwürfig in Washington vorstellig und bettelte geradezu um die Rückkehr von US-Soldaten, Ausbildern und Militärhilfe in den Irak. Der "Islamische Staat" (IS) hatte das Wunder möglich gemacht.
Innerhalb kürzester Zeit war auf mysteriöse Weise aus verschiedenen Nachfolgegruppierungen von al-Qaida und geistesverwandten anderen Terrororganisationen im Irak und in Syrien der IS entstanden, der zwischen 2011 und 2014 unter dem Label ISIS (Islamischer Staat im Irak und in Syrien) firmierte.
Die westlichen Medien stürzten sich auf das neue Phänomen, das angeblich al-Qaida an mittelalterlicher Grausamkeit noch bei Weitem übertraf. Und tatsächlich kam es dann 2014 zur wundersamen Rückkehr des US-Militärs in den Irak. Und damit nicht genug: auf einmal hatten die US-Amerikaner in Bagdad auch wieder politisch das Sagen. Auf ihr Drängen musste der kurz zuvor demokratisch wiedergewählte Ministerpräsident Maliki abdanken und Haidar al-Abadi, – wohlgemerkt von Washington ausgesucht – konnte die Regierungsgeschäfte in Bagdad übernehmen.
Der in einem kalten Putsch geschasste Ministerpräsident Maliki wurde von Washington als Hauptverantwortlicher für die schnelle Eroberung großer Teile des sunnitischen Iraks durch die IS-Terroristen an den Pranger gestellt, während sich die USA als Helfer in der Not aufspielten. Dabei war es die US Army, die zuvor die Infrastruktur des Irak in die Steinzeit zurückgebombt hatte und das US-Besatzerregime, das auch in der Folgezeit systematisch jeglichen gesellschaftlichen Zusammenhalt im Land zerstört und die einzelnen Ethnien und Glaubensrichtungen bis in die Todfeindschaft gegeneinander aufgehetzt hatte.
Es dauerte jedoch nicht lange, da wurde auch im Irak bekannt, dass viele IS-Kämpfer zuvor von denselben USA in Trainingslagern in Jordanien im Umgang mit modernsten Waffen ausgebildet und ausgestattet worden waren. Auch bei der angeblichen "Bekämpfung" des IS haben sich immer mehr Iraker gewundert, warum die US-Luftwaffe dabei so zögerlich vorging. Hin und wieder wurden ein paar Geschütze der Terrormiliz oder einer ihrer Tankwagen in die Luft gejagt oder angeblich ein IS-Kommandeur von einer Drohne ausgeschaltet.
Aber insgesamt arbeitete die US-Luftwaffe im Irak bei der IS-Bekämpfung sehr langsam und ungenau. Das war seinerzeit nicht nur hochrangigen irakischen Militärs aufgefallen, sondern auch US-Medien, die anscheinend vom Pentagon noch nicht hinreichend in die geheime US-Strategie eingeweiht worden waren: nämlich im Islamischen Staat einen nützlichen Feind zu sehen, mit dessen Hilfe die USA im Irak wieder den Ton angeben können und obendrein auch in Syrien einen Vorwand haben, um dort zu intervenieren.
Als gegen Ende 2014 auch in US-Medien die Kritik über eine zu geringe Effizient der US-Air Force-Einsätze gegen den IS zunahm, wartete das Pentagon mit einer umwerfenden Erklärung auf. Demnach seien Truppenbewegungen und -Ansammlungen der Terrormiliz "schwer zu identifizieren". Und da man die irakische und syrische "Zivilbevölkerung vor Schaden bewahren" möchte, müsse man außergewöhnlich vorsichtig vorgehen. Das erkläre die geringe Wirkung der US-Luftschläge, so ein Pentagon-Sprecher.
Als ob Washington bei seinen Bombardements und Drohneneinsätzen rund um den Globus jemals Rücksicht auf die Zivilbevölkerung genommen hätte. Erinnert sei nur an Hanoi, über die Städte und Dörfer in Serbien bis hin zur Vernichtung der mit Zivilisten vollgestopften und umzingelten irakischen Großstadt Falludscha, die zu 90 Prozent dem Erdboden gleichgemacht worden war.
Aber die Ausreden, warum die US-Streitkräfte – vor allem die Air Force – nur Scheingefechte gegen den IS führten, wurden noch verrückter. Mitte 2015 war auch den US-Medien aufgefallen, dass trotz täglicher US-Bombereinsätze in Syrien, die sich angeblich gegen den IS richteten, der Öl-Schmuggel dieser Terrororganisation von den eroberten Öl-Feldern in Syrien in die Türkei nicht nur unbehindert weiterging, sondern sogar noch zugenommen hatte. Die Luftaufnahmen von Kilometer langen Konvois aus Tanklastwagen auf den syrischen Pisten in Richtung türkischer Grenze zeugten davon. Die Erlöse aus dem Ölschmuggel stellten eine der Haupteinnahmequellen des IS dar. Aber die sonst so auf Bomben versessene US-Luftwaffe ließ deren Tankerkonvois völlig in Ruhe, obwohl die auch aus großer Höhe ganz leicht zu identifizieren waren.
Michael Morell, ein ehemaliger CIA-Direktor, gab der Öffentlichkeit schließlich des Rätsels Lösung preis. Am 25. November 2015 sagt er gegenüber dem auf politische Nachrichten aus Washington spezialisierten Medium The Hill, dass Sorgen über die mögliche Umweltverschmutzung den US-Präsidenten bisher davon abgehalten hätten, jene Ölquellen und Tanklaster zu bombardieren, mit denen sich der IS fortwährend finanzierte.
Wörtlich Geheimoperationen gezielt russische Offiziere in Syrien ermorden zu lassen, ohne Rücksicht auf die daraus folgenden Gefahren für einen großen Krieg?
Die Unterstützung der US-Regierung für den IS war zu diesem Zeitpunkt bereits so offenkundig, dass der Chefideologe der New York Times, Thomas Friedman, der als "einflussreichster Kommentator" der USA gilt, in seiner Kolumne vom 18. März 2015 die rhetorische Frage stellte, ob es nicht besser wäre, wenn die USA die IS-Terroristen nicht länger über Umwege verdeckt, sondern auf direktem Weg und ganz offen auch mit schweren Waffen versorgen sollte. So wahnsinnig das klingt, im politischen Spektrum der USA fand selbst dieser Vorschlag Unterstützer.
Zwei Monate später – im Mai 2015 – wurden die vielen Hinweise auf ein Zusammenspiel zwischen Washington und dem IS endlich durch ein offizielles US-Dokument unwiderlegbar bewiesen. Dabei handelte es sich um ein Dokument des militärischen Nachrichtendienstes der USA, der Defence Intelligence Agency (DIA).
Die Freigabe des geheimen DIA-Pentagon Bericht war von der konservativen US-Bürgerrechtsorganisation "Judicial Watch" im Zusammenhang mit den Untersuchungen zur Libyen-Krise per Gerichtsbeschluss erzwungen worden. Der Bericht stammt aus dem Jahr 2012, also aus einer Zeit, in der der IS als neues "Markenzeichen" des Schreckens noch in den Kinderschuhen steckte.
Aber trotz der vielen von der Zensur entfernten Passagen geht aus dem 7 Seiten umfassenden Bericht des Pentagon einwandfrei die bewusste Komplizenschaft der US-Regierung und anderer westlicher Regierungen mit al-Qaida Gruppierungen und anderen islamistischen Gewaltextremisten hervor, indem diese massive Unterstützung erhalten. Der Geheimbericht macht auch klar, dass die westlichen Mächte diese Terrorgruppen nicht eindeutig als Feind identifizieren, sondern als strategisches Instrument, mit dem ausdrücklichen Ziel, den syrischen Präsidenten Baschar al-Assad zu stürzen.
Weiter zeigt das DIA-Dokument, dass sich – anders als die von westlichen Politikern und ihren "Qualitätsmedien" immer wieder beschworene "gemäßigte" oder "demokratische" Opposition in Syrien – die DIA von Anfang an keine Illusionen darüber machte, wer in Syrien tatsächlich gegen die rechtmäßig gewählte Regierung kämpfte. So unterstreicht die DIA in ihrem Bericht, dass schon vor 2012 "die Ausweitung des Aufstands in Syrien" zunehmend eine "sektiererische Richtung" genommen hatte und dass "die Salafisten [sic!], … und AQI [al-Qaida im Irak, Vorläuferorganisation des IS] die Hauptantriebskräfte für den Aufstand in Syrien sind".
Wenn es im DIA-Dokument auch nicht explizit so formuliert ist: Die USA und ihre Verbündeten in der NATO sind dadurch als Geburtshelfer und Unterstützer des IS entlarvt, obwohl sie in der Öffentlichkeit scheinheilig die Terroristen lautstark verurteilen.
Nach der Veröffentlichung des DIA-Dokuments gab es viele Stimmen, auch von angeblichen Linken, die versuchten, die in dem Dokument hergestellten Zusammenhänge zu zerreden und die Obama-Regierung in Schutz zu nehmen. Höchstwahrscheinlich habe Obama die DIA-Analyse und Warnungen gar nicht zu Gesicht bekommen, hieß ein weit verbreiteter Erklärungsversuch der Anhänger Obamas, um das Image des Friedensnobelpreisträgers zu retten, der nun auch noch als Terroristenunterstützer dastand.
Diesen Ausreden machte der damalige Chef der DIA, Generalleutnant Michael Flynn, in einem Interview mit Al Jazeera schnell ein Ende. Darin bestätigte er nicht nur, dass auch die anderen US-Geheimdienste ganz genau beobachtet hatten, wie die verschiedenen Gruppen von islamistischen Gewaltextremisten auf wundersame Weise im westlichen Narrativ zu einer friedlichen, demokratischen "Opposition" in Syrien mutierten beziehungsweise mutiert wurden. Auch wies Flynn die Vermutung zurück, die US-Regierung habe die Analyse der DIA gar nicht gesehen. Laut Flynn hat Obama diesen höchst unbequemen, aber ehrlichen DIA-Bericht sehr bewusst ignoriert. "Ich denke, es war eine vorsätzliche Entscheidung", so der ehemalige DIA-Chef.
Und so hatte man von Washington aus ideale Bedingungen für die Entstehung und das Erblühen des IS als einem sehr nützlichen "Feind" geschaffen. Dabei wurde der auch vor Ort tatkräftig von den NATO-Vasallen unterstützt, wie aus nachfolgender Meldung des britischen Guardian im Juni 2015 über die aktiven britischen Geheimdienste mit ISIS deutlich wird:
Der Guardian berichtete über eine Gerichtsverhandlung in London gegen einen schwedischen Staatbürger, der wegen terroristischer Aktivitäten in Syrien bei seiner Durchreise durch England als Teil einer dem IS nahestehenden Gruppe verhaftet worden war. Richtig interessant wurde der Prozess erst, als herauskam, warum die Staatsanwaltschaft den Prozess abgebrochen hatte. Eine Fortführung wäre nämlich für die britischen Nachrichtendienste höchst peinlich geworden. Denn die Anwälte der Verteidigung hatten gedroht, Beweise vorzulegen, dass die gleiche Terroristengruppe, wegen deren Mitgliedschaft der Schwede jetzt in London vor Gericht stand, zuvor vom britischen Geheimdienst MI6 mit großen Mengen an Waffen und Munition beliefert worden war und die Terroristen vom MI6 sogar noch an den Waffen entsprechend ausgebildet worden waren.
Vor diesem Hintergrund erahnt der geneigte Leser sicherlich schon, was hinter der Drohung des US-Regierung von Anfang Januar 2020 steckte, als es verlauten ließ, alle Operationen gegen den IS einzustellen.
Im dritten und letzten Teil wird beleuchtet, wie der IS vermutlich mit aktiver, aber ganz sicher mit passiver Hilfe der USA in den letzten sechs Monate die politischen Wirren in Bagdad genutzt hat, um im Irak die aus Syrien kommenden Versprengten oder Terroristengruppen wieder einzusammeln, sich neu formieren zu lassen, um in einer Reihe von irakischen Provinzen erneut in die militärische Offensive zu gehen. Dort hat sich das Blatt schon wieder einmal gewendet. Vor allem die schiitischen Einheiten der irakischen Armee, die sich noch vor kurzem als IS-Jäger einen Namen gemacht hatten, sind selbst wieder zu Gejagten geworden.
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