„Gestern hatte meine Mutter Geburtstag“, berichtete mir kürzlich ein junger Syrer aus Damaskus. „Weißt Du, was wir ihr geschenkt haben? Zwei Liter Heizöl, damit wir den Nachmittag und Abend im Wohnzimmer heizen konnten!“
Fragen Sie sich, warum angesichts der bedrohlichen Meldungen aus Idlib so eine Bagatelle eine Nachricht sein soll? Sie sollten sich fragen, warum zwei Liter Heizöl in einem Land mit ausreichenden, eigenen Ölressourcen im 21. Jahrhundert so kostbar sind, dass sie der Mutter zum Geburtstag geschenkt werden.
Zumal Syrien eigene Ölressourcen hat, die noch vor zehn Jahren vollkommen ausreichten, die eigene Bevölkerung mit preisgünstigem Öl zu versorgen. Was übrig blieb, das konnte Syrien nach Europa, auch nach Deutschland exportieren. Und die Europäische Union (EU) machte zusätzlich Profit, weil es syrisches Rohöl raffinierte und nach Syrien zurück verkaufte.
Dass Heizöl in Syrien rar und fast unerschwinglich geworden ist, ist keine Bagatelle, sondern ein Skandal. Es hat mit der europäischen und deutschen Politik gegenüber Syrien zu tun, genauer gesagt, mit den westlichen Wirtschaftssanktionen, die 2011 gegen Syrien verhängt und seitdem jährlich verlängert wurden.
Fragen Sie also den bundesdeutschen Außenminister Heiko Maas, warum Heizöl für die normale Bevölkerung in Syrien so teuer geworden ist, dass die Menschen dort ihre Wohnungen im Winter nicht ausreichend heizen können. Fragen Sie ihn, warum Syrien die eigenen Ölressourcen nicht nutzen kann, warum es für die Syrer kein Öl, kein Gas, keine ausreichenden Medikamente, keine Ersatzteile, keinen internationalen Handel gibt.
Fragen Sie Maas, warum Geldüberweisungen gestoppt und die Bewegungsfreiheit der Syrer massiv behindert wird. Fragen Sie ihn, warum in der EU das Geld der syrischen Zentralbank „eingefroren“ ist, obwohl das Land es dringend für die Versorgung der eigenen Bevölkerung und für den Wiederaufbau braucht.
Fragen Sie den deutschen Außenminister, warum er bei der Debatte um Idlib im UN-Sicherheitsrat vor zwei Tagen mit Sanktionen gedroht hat, sollte Syrien den Kampf um sein eigenes Territorium nicht einstellen. Fragen Sie ihn, warum er gegenüber der ARD sagte, Sanktionen seien „immer das letzte Mittel“? Dabei hat der EU-Rat – und damit auch Deutschland – zuletzt vor wenigen Tagen die Sanktionen gegen Syrien wieder einmal ausgeweitet.
Seit neun Jahren führen Deutschland und die EU in Kooperation mit den USA mit „einseitigen wirtschaftlichen Strafmaßnahmen“ einen Wirtschaftskrieg gegen Syrien. Der englische Begriff „Coercive Measures“ kann auch mit „Zwangs- oder Beugemaßnahmen“ übersetzt werden. Syrien soll gebeugt werden und sich den regionalen Ordnungsplänen des Westens unterordnen.
Weil Syrien das nicht tut und sich stattdessen mit denjenigen zusammenschließt, die – wie die UN-Charta es festschreibt – die staatliche Souveränität und territoriale Integrität Syriens respektieren, werden Syrien und seine Verbündeten gleich mit bestraft. Die Sanktionen des EU-Rates waren ursprünglich gedacht, um Syrien bei der Lösung seiner internen Probleme 2011, dem Aufstand, der rasch in einen Krieg mündete, zu behindern.
Erstmals wurden sie im Sommer 2011 auf Vorschlag des damaligen Bundesaußenministers Guido Westerwelle verhängt. Weil Sanktionen als zivile Strafmaßnahme gelten und keine militärische Intervention sind, regte sich hierzulande kein Widerspruch. Die mediale Begleitmusik dämonisierte einerseits die syrische Regierung und Präsident Bashar al-Assad und beförderte andererseits die Stimmen von „Rebellen“ und Oppositionellen.
Die forderten neben Sanktionen und der politischen Isolation Syriens auch Waffen, Flugverbotszonen, Hilfe der Nato, Geld und humanitäre Unterstützung. Die Herzen flogen den „Rebellen“ zu, die gegen den „Diktator“ kämpften. Man schloss sich mit den USA und den Golfstaaten zu den „Freunden Syriens“ zusammen, Bundesregierung und der Europa-Rat waren sich ihrer Sache sicher.
Der Krieg in Syrien eskalierte und Jahr um Jahr wurden die einseitigen wirtschaftlichen Beugemaßnahmen gegen das Land verlängert. Heute umfasst die EU-Sanktionsliste gegen Syrien 277 Einzelpersonen und 71 Unternehmen und Institutionen, darunter auch staatliche Unternehmen wie die Zentralbank, die staatlichen Öl- und Gasförderunternehmen, staatliche Ölraffinerien in Banias und Homs, staatliche Krankenhäuser und medizinische Einrichtungen, die staatliche Fluglinie, die Hafenbehörden und viele mehr. Die gesamte syrische Regierung oder besser gesagt, syrische Regierungen seit 2011, stehen auf der Sanktionsliste.
Der syrische Ölsektor unterliegt gleich mehrfach Sanktionen. Syrien darf keinerlei notwendige Ausrüstung importieren. 2012/13 wurden die Ölförderanlagen von der „Freien Syrischen Armee“ (FSA), dann vom „Islamischen Staat im Irak und in der Levante“ (IS) besetzt. 2014 wurden die Ölförderanlagen von der US-geführten Allianz bombardiert.
Dann haben US-Spezialkräfte mit den von Kurden geführten „Syrischen Demokratischen Streitkräften“, den US-Partnern am Boden, die syrischen Öl- und Gasfelder im Osten des Landes besetzt. Heute sind dort zusätzlich zu den US-Truppen Söldner stationiert. Es wird auf jeden syrischen Soldaten geschossen, der es wagt, sich zu nähern.
Aus Not und Mangel an Öl für den Betrieb der Elektrizitätswerke, für Transport und Produktion, begann die syrische Regierung schließlich über einen syrischen Geschäftsmann, das eigene Öl aus dem Osten des Landes zurückzukaufen. Erst von der FSA, dann von Beduinenstämmen, die mit dem „IS“ kooperierten, schließlich von den syrischen Kurden. Das Öl wird auch über den kurdischen Nordirak in die Türkei verkauft und auf verschlungenen Wegen an die Kämpfer in Idlib geschmuggelt.
Die EU-Sanktionen ergänzen sich mit dem von den USA verhängten Öl-Embargo gegen Syrien und Iran. Der Iran ist mit Syrien seit 1979 verbündet und liefert Öl, seitdem Damaskus der Zugriff auf die eigenen Ressourcen verweigert wird. Die USA gehen weit bei der Durchsetzung ihres Embargos und bedrohen Händler, Banken, Transportunternehmen, Staaten, die mit Syrien oder dem Iran Geschäfte machen wollen.
Ungeachtet der internationalen Rechtslage – wonach Länder ihre Handelspartner frei wählen können – wurde auf US-Anforderung ein iranischer Tanker, der im Sommer 2019 Rohöl nach Syrien liefern sollte, von britischen Spezialkräften in der Straße von Gibraltar geentert und festgesetzt. Im Mittelalter hieß das Piraterie.
Wirtschaftssanktionen gegen ein Land müssen vom UN-Sicherheitsrat beschlossen werden. Die verheerenden Auswirkungen solcher Maßnahmen waren zuletzt von 1990 bis 2003 im Irak zu sehen. Deshalb hat der Sicherheitsrat inzwischen von solchen Strafmaßnahmen Abstand genommen.
Strafmaßnahmen statt Völkerrecht
So verhängen nun die reichen Industriestaaten und Staatenbündnisse um die USA einseitige wirtschaftliche Strafmaßnahmen. Da sie nicht vom UN-Sicherheitsrat beschlossen wurden, gelten sie bei der Mehrheit der UN-Mitgliedsstaaten als völkerrechtswidrig. Das machte Idriss Jazairy, der UN-Sonderberichterstatter für die Auswirkungen von einseitigen Wirtschaftssanktionen auf die Bevölkerung des betroffenen Landes deutlich, als er im Mai 2019 Berlin besuchte.
Die Länder, von denen die einseitigen Sanktionen ausgehen, nehmen das Recht in die eigenen Hände. Sie versuchen Länder, die sich dem politischen Willen der Ausgangsstaaten nicht unterordnen wollen, zu beugen. Das sei eine Gefahr für den Weltfrieden, so Botschafter Jazairy. Für Deutschland, seine EU-Partner und die USA gehören Wirtschaftssanktionen zur Diplomatie im 21. Jahrhundert und sind Teil der neuen Außenpolitik. Sie rechtfertigen sie mit nationaler Rechtsprechung und Interessen. Das Völkerrecht wird ausgehebelt.
Einseitig verhängte Sanktionen oder wirtschaftliche Straf- und Beugemaßnahmen sollen einem gegnerischen Staat den gleichen Schaden zufügen wie ein Krieg. Der Vorteil für die Ausgangsländer ist, dass sie bei Sanktionen keine eigenen Soldaten gefährden. Soldaten, die im Krieg gegen ein Land, das unterworfen werden soll, getötet werden, bringt die Heimatbevölkerung gegen die Regierung auf, die den Einsatz befohlen hat.
Gegen Sanktionen regt sich kaum Widerstand. Im Gegenteil: Selbst fortschrittliche Oppositionsparteien und Teile der deutschen Friedensbewegung halten Sanktionen für richtig, weil sie besser sind als Krieg.
Die am 17. Februar erneut verschärften einseitigen wirtschaftlichen Strafmaßnahmen der EU gegen Syrien richten sich direkt gegen den Versuch des Landes, wieder aufzubauen. Wiederaufbauhilfe sei nicht vorgesehen, so Bundesaußenminister Maas im Interview mit der ARD: „Letztlich wäre das nur ein Beitrag dazu, die Macht Assads weiter zu stabilisieren. Daran hat sicherlich die internationale Staatengemeinschaft kein Interesse.“
Es ist wohl nicht der deutsche Außenminister, der das Interesse der internationalen Staatengemeinschaft vertritt. Maas klingt eher wie das Echo der US-Administration, die ihre Verbündeten warnt, auf Syrien zuzugehen, geschweige denn, beim Wiederaufbau zu helfen. Die deutsche Syrien-Politik gibt sich als Erfüllungsgehilfe der US-Strategie eines Wirtschaftskrieges gegen Syrien.
At a US gov-funded think tank, this official who oversaw Congress' Syria Study Group outlines the continued regime-change strategy.
— Ben Norton (@BenjaminNorton) November 5, 2019
She says the US military "owned" 1/3rd of Syrian territory, including its oil/wheat-rich region. And the US is trying to block reconstruction funds pic.twitter.com/NIEJ9elxhs
Außenminister Maas zeigte beim UN-Sicherheitsrat am Donnerstag, wie gehorsam die US-Marschbefehle ausgeführt werden. Er sprach sich dabei laut der Nachrichtenagentur DPA dafür aus, die syrische Regierung weiter zu isolieren. Das war verbunden mit unbewiesenen Vorwürfen an Damaskus.
Ebenso sprach Maas von weiteren Wirtschaftssanktionen gegen Damaskus und seine Verbündeten. Gleichzeitig schloss er Wiederaufbauhilfe und technische Unterstützung für Syrien aus. Die Bundesregierung fordert zugleich mehr humanitäre Hilfe und die Öffnung weiterer Grenzübergänge, über die UN-Hilfe in die Gebiete im Nordosten Syriens und nach Idlib gelangen kann.
Selbst der Aufbau von kleinen Projekten, die den Menschen mit Molkereien, dem Kauf von Vieh oder Bienenstöcken Hilfe zum Leben in Aussicht stellen, sollen mit Hilfsgeldern der EU oder Deutschlands nicht finanziert werden. Damit werde nur „das Assad-Regime gestärkt“, heißt es.
Die Wirtschaftssanktionen gegen Syrien verhindern nicht nur den Aufbau von Werkstätten, kleinen verarbeitenden Firmen und Ausbildungsstellen. Sie hindern ebenso staatliche und private Unternehmen, die auf der Sanktionsliste stehen, daran, zu bauen, zu produzieren und Arbeitsplätze zu schaffen. Geschäftsleute in Aleppo, die nicht nur von Sanktionen, sondern zuvor schon durch den Krieg, die Plünderung ihrer Fabriken und die Abwanderung der Arbeiter betroffen sind, sagten mir schon vor einem Jahr:
„Wenn wir Arbeitsplätze schaffen, dann ernährt jeder Arbeiter eine Familie. Die Hilfsorganisationen, die Sie schicken, machen unsere Bevölkerung zu Bittstellern. Sie sind zum Nichts-Tun verdammt, warten auf die Hilfe, haben keine Arbeit, keine Wohnung, sie verlieren ihre Würde, ihre Zukunft!“
Noch einmal zurück zum Heizöl: „Minus sieben Grad hatten wir die letzten Nächte“, berichtete Hussam M., der in einem Vorort von Damaskus wohnt. „Wir haben alle die Grippe, aber keine Angst, es ist nicht Corona“, fügte er hinzu und lachte. „Strom wird rationiert, kein Heizöl, um zu heizen, kein Gas, um zu kochen. Es ist wirklich schwierig für uns und wahrscheinlich wird es noch schlimmer“, so Hussam weiter. „Die USA und die anderen wollen uns zerquetschen. Aber keine Sorge, wir werden überleben.“