Demnach ergab die Zählung in der „Nacht der Solidarität“ vom 29. auf den 30. Januar:
Insgesamt 1976 obdachlose Menschen in Berlin wurden gezählt. 942 davon trafen die Zählenden in städtischen Einrichtungen der Kältehilfe an und 807 auf offener Straße. 56 Prozent der befragten Obdachlosen sind zwischen 30 und 49 Jahre alt. Auch drei minderjährige Obdachlose wurden gezählt. Über 84 Prozent der befragten Wohnungslosen waren männlich, 14 Prozent weiblich. Etwa 39 Prozent der befragten Obdachlosen haben die deutsche Nationalität. Über die Hälfte der Wohnungslosen, die in Berlin leben, kommen laut eigenen Angaben aus anderen EU-Staaten oder einem anderen Land.
„Ich hätte damit gerechnet, dass wir mehr Frauen auf der Straße antreffen“, kommentierte Senatorin Breitenbach die Zahlen. „Das ist aber wohl auch ein Hinweis darauf, dass es eine verdeckte Obdachlosigkeit gibt.“ Fast die Hälfte der Befragten gab an, seit mehr als drei Jahren keine feste Wohnung mehr gehabt zu haben. Von den 288 befragten Obdachlosen lebten 25 in einer Beziehung und weitere zwei davon sogar mit einem Kind auf der Straße. „Das hat mich überrascht“, gab die Sozialsenatorin zu.
Die Berliner Räume mit den meisten gezählten Obdachlosen sind laut der Zählung:
Die Rummelsburger Bucht, Bahnhof Zoologischer Garten, Alexanderplatz, der Bereich rund um die Warschauer Straße. Aber auch laut den Zählenden „sehr überraschend“: Der idyllische Lietzensee in Berlin-Charlottenburg.
„Ende des letzten Jahres wurde der neue Haushalt beschlossen“, erklärte die Sozialsenatorin nach der Vorstellung der Zählung den Medienvertretern. „Wir haben für niedrigschwellige Maßnahmen 8,9 Millionen Euro im Haushalt stehen. Wir haben dazu noch zusätzliches Geld für Modell-Projekte. Wir müssen jetzt überprüfen, wie wir dieses Geld sinnvoll einsetzen.“ Die aktuelle Zählung solle dabei helfen. „Wir brauchen natürlich noch eine weitere Zählung.“ Sie betonte:
„Ich möchte gerne mit den Menschen, die in dieser Stadt auf der Straße leben, zusammenarbeiten. Ich möchte gerne wissen, wo sie im Einzelnen sind und wo wir dafür sorgen müssen, dass sie Hilfsangebote haben. Und ich möchte wissen, wie diese Hilfeleistungen aussehen müssen.“
Nach der Pressekonferenz sprach Projektleiter Klaus-Peter Licht mit Sputnik über Hintergründe und Erkenntnisse der Berliner Obdachlosen-Zählung.
„Man wird nie genau wissen können, wie viele Obdachlose es in Berlin gibt, dass muss ich leider sagen“, sagte er im Sputnik-Interview. „Die Dunkelziffer gibt es immer. Dazu sind obdachlose Menschen zu mobil. Das sind immer Stichtags-Zahlen in der Zählung.“ Allerdings betonte er auch: „Wir nähern uns an. Je mehr wir zählen können und auch je mehr Teams unterwegs sind, desto besser wird die Zahl werden. Ich hoffe auch, dass Ängste bei den obdachlosen Menschen abgebaut werden. Dass sie bei der nächsten Zählung sehen, sie brauchen sich nicht zu verstecken. Dann sollten die Zahlen noch konkreter, noch genauer werden. Aber alle werden wir nie zählen können.“
Die Zählung sei ein erster Schritt zur weiteren Verbesserung der städtischen Hilfeleistung für obdachlose und wohnungslose Menschen. „Berlin macht in diesem Bereich schon sehr viel“, erklärte der Projektleiter. Durch die Zählung „haben sich viele Thesen, die Expertinnen und Experten vorher hatten, bestätigt. Ich denke nicht, dass jetzt in großem Aktionismus ganz viel umgesteuert werden muss. Es geht vor allem um Verfeinerungen. Das ist ein Thema, das wir mit den Experten besprechen werden.“
Dass „nur“ knapp 2000 Obdachlose in Berlin gezählt wurden, verwunderte auch so manchen Beobachter bei der Pressekonferenz. Denn schließlich gehen selbst zurückhaltende Schätzungen von etwa 6000 bis 10.000 Obdachlose in der Stadt aus. Dazu erklärte Armutsforscherin Gerull auf der Pressekonferenz: „Obdachlose Menschen, die bei Freunden oder auf Dachböden übernachten und Couch-Surfer konnten wir nicht erfassen. Sondern wir haben die Menschen erfasst, die im Zeitraum der Zählung im öffentlichen Raum sichtbar waren. Wir werden die tatsächliche Zahl nicht mit seriösen wissenschaftlichen Verfahren erfassen können. Wir kennen alle das Problem der verdeckten und versteckten Wohnungslosigkeit.“ Dies sei immer das methodische Problem bei solchen Erhebungen.
Als Ursachen für Obdachlosigkeit in Deutschland nennen Städte-, Sozial- und Wohnungs-Experten häufig wirtschaftliche Gründe. Viele Menschen vor allem im unteren Einkommensbereich können von ihrem Verdienst kaum noch leben. Steigende Mieten führen dann in manchen Fällen dazu, dass Menschen selbige verlieren. Auch Gentrifizierung wird häufig als Grund genannt, warum Menschen auf der Straße landen.
„Es gibt viele Ursachen“, kommentierte Projektleiter Licht im Sputnik-Gespräch. „Psychische Erkrankungen können eine Ursache sein. Wichtig ist mir, noch einmal zu sagen, dass die Zählung keine Antwort auf alle Fragen geben kann. Diese Zählung ist eine Basis, um Zahlen zu haben. Für alle diese wirklich wichtigen inhaltlichen Fragen nach den Gründen muss man wissenschaftliche Untersuchungen durchführen, Interviews führen. Das ist mit so einer kurzen Befragung und Zählung auf der Straße in der Form nicht möglich.“
Schon im Vorfeld übten soziale Organisationen Kritik an der Berliner Obdachlosen-Zählung, die manche Vertreter von Obdachlosen-Vereinen auch auf der Pressekonferenz wiederholten. So lehnt die „Selbstvertretung wohnungsloser Menschen“ die Obdachlosenzählung ab.
„Die Zählung hat eine Alibi-Funktion: Tiere werden gezählt – Menschen muss geholfen werden, im Fall von wohnungslosen Menschen muss das eine Wohnung sein“, heißt es in einem Positionspapier der Initiative. Außerdem gebe es trotz der Zählung eine hohe Dunkelziffer. Ein Grund dafür sei, dass die Zähl-Teams nicht auf privatem Gelände, in Abrisshäusern oder in Parkanlagen zählen durften.
Etwas skeptisch zeigte sich laut einem Bericht der „Tagesschau“ aus Ende Januar auch der Leiter der Stadtmission am Bahnhof Zoo, Wilhelm Nadolny. Er sei nicht sicher, inwieweit eine konkrete Statistik in der täglichen Arbeit mit Obdachlosen helfen könne. Die Aktion sei jedoch ein erster Schritt zu mehr Bewusstsein in der Gesellschaft.
„Das Wichtigste an der ‚Nacht der Solidarität‘ ist, dass sie die Obdachlosigkeit in den Fokus rückt“, sagte er.
Bis April will der Berliner Senat nach eigenen Angaben in regionalen Workshops mit Experten der Wohnungslosenhilfe – darunter freie Träger, Bezirksämter und Straßensozialarbeiter – das weitere Vorgehen besprechen. Dazu sind in diesem Jahr mehrere Fachtagungen und Strategiekonferenzen geplant. Im Frühjahr oder Sommer 2021 will der Senat die nächste Obdachlosen-Zählung in der Hauptstadt durchführen.
Das komplette Radio-Interview mit Klaus-Peter Licht zum Nachhören: