Da wären beispielsweise die britischen Linken. Labour hatte von Anfang an auf den Verbleib in der Gemeinschaft gepokert und ist zuletzt bei den Europawahlen hart abgestraft worden. Die britischen Linken hätten „elektoralen Selbstmord“ begangen, sagt Buchautor und EU-Experte Andreas Wehr. Jeremy Corbyn und seine Mitstreiter hätten erkennen müssen, dass es nicht darum ging, sich die Unterstützung der Wahlkreise im Süden des Landes zu sichern, in dem es von Beginn an eine Mehrheit für „Remain“ gegeben habe. Entscheidend seien vielmehr die Wähler im abgehängten Norden gewesen, in den Wahlkreisen, in denen es der Bevölkerung nicht ganz so gut geht und wo die einfachen Menschen zu recht Sorgen vor der Zukunft plagen.
„2019, ist dort vor allem die Brexit-Partei von Nigel Farrage erfolgreich gewesen, und jetzt eben die Konservativen. Das heißt, Labour hat diese Wähler nicht verstanden, wollte sie nicht verstehen und hat sich in den letzten Jahren leider in die Richtung bewegt, den Brexit zu einem Soft Brexit zu machen und die Entscheidung in die Hände der Bevölkerung zu legen. Das hat dazu geführt, dass die Wähler im Norden und in den Gebieten, wo es nicht so gut aussieht, gesagt haben: Wir wählen jetzt die Konservativen, es soll bei dem Votum von 2016 bleiben und nicht wieder verändert werden“, analysiert der Experte.
Den deutschen Linken attestiert er gute Chancen, auf ganz ähnliche Weise das Vertrauen der Wähler zu verlieren, unter anderem wegen der zu unkritischen Haltung gegenüber der EU.
„Die Linke wird immer unglaubwürdiger, wird immer mehr zur EU-freundlichen Partei und verliert Wähler. Die traditionellen Arbeiterschichten – da ist sie kaum noch vertreten. Das ist also eine ähnliche Entwicklung wie in Großbritannien. Die meisten europakritischen Wähler enthalten sich, wie zuletzt bei den Europawahlen. Viele enthalten sich, weil sie nicht einverstanden sind und auch keine Partei sehen, die sie wählen könnten. Einige gehen sicherlich auch zur AfD.“ Hierbei dürfe jedoch nicht übersehen werden, dass die AfD keine durchweg EU-kritische Partei sei und ihre Haltung pro offenen Binnenmarkt und mehr Privatisierung sie vielmehr zu einer neoliberalen Partei mache, unterstreicht Wehr.
Während es durchaus Optimisten gibt, die den Brexit als Chance begreifen, treibt er anderen Sorgenfalten auf die Stirn. Kein Wunder, denn es gibt viele Unsicherheiten und wenig Konkretes, was die Zukunft dies- und jenseits des Ärmelkanals angeht.
Eines der großen Fragezeichen steht hinter der Zukunft der Wirtschaft und des Handels. Bis zum Ende der einjährigen Übergangsphase will Großbritannien einen Freihandelsvertrag mit der EU ausgehandelt haben. Ein ehrgeiziges Ziel, findet Andreas Wehr.
„Denn die Freihandelsverträge, die die EU bisher ausgehandelt hat, haben ein paar Jahre gedauert. Die EU hat vor allen Dingen das Problem, dass diese Freihandelsverträge nicht nur von der Europäischen Kommission ausgearbeitet und akzeptiert werden müssen, sondern in vielen Passagen auch von den nationalen Parlamenten. Das kann also schon mal länger dauern und ich erwarte, dass es da nochmal eine Nachfrist gibt.“
Auch der deutschen Wirtschaft ist angesichts des Austritts des vereinigten Königreiches mulmig. Von Anfang an hatte sie öffentlichkeitswirksam immer wieder vor einer Katastrophe für Großbritannien und einem wirtschaftlichen Rückgang für Deutschland gewarnt. Diese dramatischen Entwicklungen sind freilich bisher nicht eingetreten, im Gegenteil: In Großbritannien hat man sogar einen Beschäftigungsaufbau um eine Million Arbeitsplätze in den letzten Jahren verzeichnet.
„Es sieht ganz so aus, dass da viel dramatisiert wurde und man versucht hat, politisch Druck auszuüben, eine Revision herbeizuführen. Wie sich das im Einzelnen konkret entwickeln wird, hängt aber natürlich von dem Freihandelsvertrag ab. Es kann durchaus sein, dass dieser für die EU sehr günstig ist und dass man mit einer ‚Delle‘ davonkommt“, so Wehr.
Auch die verstärkt aus den osteuropäischen EU-Staaten ins Vereinigte Königreich zugewanderten Arbeitskräfte können erstmal bleiben. Doch könnten sich trotzdem wegen eines künftigen Rückganges der Zuwanderung Lücken auftun, beispielsweise im Gesundheitssystem, wo derzeit etwa 55.000 Pfleger, Krankenschwestern und Ärzte aus Osteuropa beschäftigt sind. Großbritannien habe wegen der großen Zuwanderung des medizinischen Personals aus Polen, Tschechien und dem Baltikum die Ausbildung solcher Fachkräfte im eigenen Land eingestellt – und das könnte sich rächen, wenn man da nicht aktiv wird, erklärt Andreas Wehr.
Die lückenhafte Versorgung in der Pflege kennen auch andere EU-Länder, nicht zuletzt Deutschland. Um den Bedarf decken zu können, sollen sogar Anwerbungsabkommen mit Staaten außerhalb der EU ausgehandelt werden. Ein Ruf, dem viele Fachkräfte aus weniger gut situierten Ländern folgen und auch künftig folgen werden – mit fatalen Auswirkungen.
„Diejenigen, die sagen, die Arbeitnehmerfreizügigkeit sei einer der großen Vorzüge der EU, sollten sich mal ansehen, wie es in Krankenhäusern in Rumänien, Polen oder Kroatien inzwischen aussieht. Es fehlen Fachleute und teilweise ist es sehr kritisch, was die Gesundheitsversorgung angeht.“
Der Austritt des Netto-Zahlers Großbritannien könnte sich bei der Finanzierung und Umsetzung ehrgeiziger EU-Projekte schnell bemerkbar machen, glaubt Andreas Wehr. So könnte man gezwungen sein, bei dem teuren Green Deal Abstriche zu machen. Andererseits ist es mit dem Brexit ein EU-Partner weniger, mit dem es gilt, Kompromisse zu machen. Oft wurde das Vereinigte Königreich als „Bremsklotz“ bezeichnet, weil es in der EU konsequent seiner eigenen Agenda folgte. Einer Agenda hin zur EU-Erweiterung und zur Schaffung einer Freihandelszone.
„Aber da waren die Briten oft im Konsens mit Deutschland und im Widerspruch zu Frankreich. Es hat schon Konstellationen gegeben, wo Deutschland und Großbritannien gegen Frankreich, das eine tiefere Integration wollte, Front gemacht haben. Denn auch Deutschland hat ein Interesse an der Ausweitung der EU. Nach dem Austritt wird sich also hier eine andere Konstellation ergeben.“
Das Königreich selbst wird jetzt, da es die EU-Beschränkungen ablegt, beim Thema Freihandel seine eigenen Prioritäten setzen und beispielsweise Freihandelsabkommen mit Süd-Korea oder Japan aushandeln. Und das wird natürlich von den in der EU verbleibenden Staaten genau beobachtet werden. Dass in Kürze Polen, Ungarn oder andere EU-Länder dem Beispiel der Insel folgen und die EU verlassen werden, glaubt EU-Experte Wehr jedoch nicht.