Der Absturz des Ölpreises im Frühjahr 2020 war ein Ereignis von ungeheurer Tragweite – und wird eine Verschiebung der globalen Machtverhältnisse zur Folge haben. Vor allem Russland und SaudiArabien dürften dabei die großen Verlierer sein. Es folgt ein Auszug aus dem Artikel „Die Energie-Epochenwende“ aus COMPACT-Spezial 26: „Welt. Wirtschaft. Krisen – vom Schwarzen Freitag zum Corona-Crash“
Viele Jahre lang richteten sich die Augen der nordamerikanischen Energiebranche auf Midland in Texas oder Fort McMurray in der kanadischen Provinz Alberta. Die beiden Städte avancierten im vergangenen Jahrzehnt durch den Schiefer- und Ölsand-Boom zu Städten, in denen die Immobilienpreise schneller stiegen als in New York oder Toronto. Inzwischen richten sich die Blicke jedoch nach Cushing im US-Bundesstaat Oklahoma – und das nicht erwartungsfroh, sondern ängstlich.
Das Städtchen mit seinen knapp 8.000 Einwohnern bezeichnet sich selbst etwas großspurig als «PipelineKreuzung der Welt». Rund um den Prärieort, den die Rohstoffbörse NYMEX im Jahr 1983 zum Auslieferungsort für Rohöl auserkoren hat, befinden sich Hunderte von gigantischen Tanks, die nun überzulaufen drohen. Das schwarze Gold ist durch den Ölpreis-Crash zum Ladenhüter geworden.
Rockefellers Imperium
Die vollen Lager von Cushing sind das sichtbare Zeichen einer epochalen Wende, die sich im Windschatten der Corona-Krise vollzieht. Erdöl war seit dem späten 19. Jahrhundert Treibstoff des Weltgeschehens. 1870 hatte John D. Rockefeller mit seiner Standard Oil Company ein Imperium geschaffen, das sich fast über die gesamte US-Erdölindustrie erstreckte. Da die Vorkommen im Nahen Osten noch nicht erschlossen waren, hatten die Vereinigten Staaten damit eine ähnlich starke Stellung am globalen Markt wie heute Saudi-Arabien.
65 Prozent der weltweiten Förderung stammten aus den USA. Zeitweilig formierte sich eine starke Konkurrenz in der damals zum russischen Zarenreich gehörenden Metropole Baku. Der schwedische Ölkönig Robert Nobel und die Bankiersfamilie Rothschild lieferten sich einen Wettlauf um die hochlukrativen, weil unter hohem Druck stehenden Quellen am Kaspischen Meer. Mit vereinter Kraft gelang es ihnen schließlich, Standard Oil vom russischen Markt fernzuhalten.
Die Glanzzeit der heutigen Hauptstadt Aserbaidschans endete durch die ruhelosen Aktivitäten eines jungen kommunistischen Agitators namens Iossif Dschugaschwili, der sich später Stalin nennen sollte. Er zettelte eine Reihe von wilden Streiks an, die die Fördertätigkeit im Kaukasus schwer beeinträchtigten. Rockefeller entschied derweil den Ersten Weltkrieg.
Zwar hatte der Oberste Gerichtshof der USA in einem Kartellverfahren 1911 die Entflechtung von Standard Oil angeordnet, doch das hinderte die daraus hervorgegangenen kleineren Unternehmen nicht, die Gesamtproduktionsmenge nochmals zu erhöhen und 80 Prozent des Ölbedarfs der Alliierten zu stillen. Der englische Vizekönig in Indien, Lord Curzon, konstatierte deshalb nach dem Waffenstillstand beim Londoner Bankett der Sieger:
«Die alliierte Sache ist auf einer Woge von Öl zum Sieg geschwommen.» Das gleiche Spiel wiederholte sich während des Zweiten Weltkriegs. 1942 äußerte Hitler gegenüber seinem Feldmarschall Erich von Manstein: «Wenn wir das Öl bei Baku nicht kriegen, ist der Krieg verloren.» Die deutsche Offensive erreichte ihre Ziele nicht, was dann tatsächlich eine Vorentscheidung darstellte. Noch kurz vor seinem Tod traf US-Präsident Franklin D. Roosevelt im Februar 1945 an Bord des Kreuzers USS «Quincy» auf den saudischen Herrscher Ibn Saud und begründete damit eine Allianz, die so wirkmächtig werden sollte wie kaum eine andere im 20. Jahrhundert.
Durch sie konnten die USA zuerst das britische Empire als Weltmacht ablösen und dann – durch einen gnadenlosen Preiskrieg in den 1980er
Jahren – die Sowjetunion in den Bankrott treiben. Im Doppelpack schienen Riad und Washington unschlagbar zu sein. Doch mit dem massiven Ausbau der Fracking-Industrie, die mithilfe spezieller Chemiemischungen in der Lage war, Öl und Gas aus zuvor unerreichbaren Gesteinsschichten zu holen, legte Amerika selbst die Axt an dieses Bündnis.
Die Machtverhältnisse im Business mit fossilen Energieträgern änderten sich grundlegend – denn plötzlich stieg Kanada, das bislang in diesem Geschäft keine Rolle gespielt hatte, wegen seiner reichen Vorkommen an Ölsanden zum Land mit den weltweit drittgrößten Reserven auf. Schon seit 2010 war der Markt deshalb fast durchgängig von einem Überangebot geprägt – und alles steuerte auf die finale Krise zu, die wir heute erleben.
Russlands Achillesferse
Die Schussfahrt der Ölkurse wurde Anfang März 2020 durch den Preiskrieg zwischen Russland und Saudi-Arabien beschleunigt. Igor Setschin, Chef des Energiegiganten Rosneft, hatte Präsident Putin dazu gebracht, die von den Scheichs ins Auge gefassten Förderkürzungen zurückzuweisen. Moskau wollte, dass das Öl durch Überangebot weiter billig bleibt, um das Fracking in den USA unrentabel zu machen und die Amerikaner aus dem Ölmarkt zu drängen.
Die Idee war eigentlich nicht schlecht: Zwei Drittel der US-Ölförderung kommen aus dem Fracking, und diese Methode ist höchst unrentabel. Es werden Unmengen an Diesel gebraucht, um zwei Kilometer tiefe Löcher zu bohren und Wasser und Chemikalien hineinzupumpen. Die Kosten sind so hoch, dass die US-Firmen 2019 einen negativen Cashflow von 2,1 Milliarden Dollar aufwiesen, in den letzten zehn Jahren sogar von insgesamt 189 Milliarden. Das heißt: Hier sind Zombies am Werkeln, die nur durch ständigen Zufluss von Kreditgeld am Leben erhalten werden und unbedingt einen hohen Ölpreis brauchen, um nicht zu bankrottieren.
Die Saudis wollten den Amis durch Förderkürzungen helfen, die Russen machten ihnen einen Strich durch die Rechnung. (Ende des Auszugs)
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