Henrich gehörte in den letzten Jahren des Landes zur Oppositionsbewegung und gründete im September 1989 die Plattform „Neues Forum“ mit. Von ihm stammte die Idee, die Gruppe als Verein anzumelden, was formal nach DDR-Recht möglich war. Doch die noch herrschende SED wollte das nicht zulassen, musste aber am 8. November 1989 doch nachgeben – ein Tag vor dem „Mauerfall“, der überraschenden Grenzöffnung.
Dieses Ereignis veränderte vieles, auch das, was Henrich kritisierte und verändern wollte. Dabei wollte er viel weitergehen, als viele in der DDR-Oppositionsbewegung mit ihren verschiedenen Gruppen. Darauf blickt der heute 75-jährige Anwalt in seinen Erinnerungen „Ausbruch aus der Vormundschaft“ zurück, die 2019 erschienen. Er war in der untergehenden DDR wegen seines Buches „Der vormundschaftliche Staat“ noch mit Berufsverbot belegt worden.
Als bis heute bedeutendstes positives Ergebnis der Ereignisse vor rund 30 Jahren sieht er den Gewinn an persönlicher Freiheit für jene, die aus der DDR stammen. „Der Fall der Mauer bedeutet natürlich Unglaubliches“, sagte er gegenüber Sputniknews. „Das ist natürlich eine entscheidende Frage. Das bleibt auch.“
So ist für Henrich auch der 9. November 1989, als die DDR-Grenze überraschend geöffnet wurde, als Datum wichtiger als die große Protest-Demonstration am 4. November auf dem Berliner Alexanderplatz. Er sei damals gegen diese „Theatervorstellung“ gewesen, auf der Oppositionelle ebenso redeten wie Vertreter der immer noch herrschenden SED.
Als wichtiger als die Demo in Ost-Berlin sieht er ebenfalls den 9. Oktober 1989 an. An dem Tag wurde die Montags-Demonstration Zehntausender in der Messestadt nicht wie befürchtet blutig niedergeschlagen. Für den kritischen Anwalt war das der Höhepunkt im Herbst 89 in der DDR – „danach war die Sache eigentlich gelaufen“.
Aus seiner Sicht blieben die damaligen Ereignisse weitgehend gewaltlos, weil die DDR-Sicherheitskräfte von Volkspolizei bis Nationaler Volksarmee (NVA) und selbst das MfS sich zurückhielten. Ihm sei bereits im September nach Gesprächen mit Polizisten und Offizieren klar gewesen, dass keine Gewalt eingesetzt wird, berichtete Henrich. Unklar sei nur gewesen, wie sich das MfS verhält.
Die Angst in der Bürgerbewegung vor der staatlichen Repressionsmaschinerie sei 1989 „übertrieben“ gewesen, schätzt der Anwalt heute ein. Schon seit Mitte der 1980er Jahre habe sich die wachsende Unzufriedenheit auch im Staats- und Sicherheitsapparat der DDR breitgemacht. Die anderslautenden Erklärungen der damaligen Partei und Staatsführung über die vermeintlich stabile Situation des Landes hätten darüber hinweggetäuscht.
Die Mehrheit der Bevölkerung habe längst anders gedacht, selbst wenn sie sich nicht den Demonstrationen der Oppositionsgruppen anschloss. Henrich ist sich sicher, dass sich selbst „das Denken im MfS längst geändert“ hatte. Das hat auch der ehemalige MfS-General Heinz Engelhardt gegenüber Sputniknews beschrieben. Engelhardt war in den späten 1980er Jahren Leiter der MfS-Bezirksverwaltung Frankfurt/Oder.
„Dass die auch schon nicht mehr wollten, das haben wir nicht gesehen“, sagte Henrich rückblickend dazu. Er nehme dem Ex-MfS-General ab, was dieser über die Stimmung in der „Stasi“ berichtete. Das bestätige seine Einschätzung: „Engelhardt gehörte eben mit zu diesem Volk, zu der Bevölkerung hier. Auch in seinem Bewusstsein spielten sich Veränderungsvorgänge ab. Wie hätte es denn auch anders sein sollen? Das hätten ja solch sture Apparate sein müssen, wie sie sich Erich Mielke vorgestellt hat, wie die Roboter. Waren sie aber nicht.“
Der kritische Anwalt sagte über die MfS-Angehörigen: „Das waren Menschen wie du und ich. Die haben das auch mitbekommen, vielleicht widerwillig. Vielleicht haben sie gesagt: ‚Das ist jetzt aber eine schiefe Entwicklung.‘ Aber selbst wenn sie das gesagt haben, waren sie schon auf der Veränderungsstrecke.“
Anfang 1990 konnte sein Buch über den „Vormundschaftlichen Staat“ auch in der noch bestehenden DDR veröffentlicht werden, ein Jahr nach der ersten Ausgabe in der BRD. Der Leipziger Dirigent Kurt Masur habe bereits Ende 1989 vorgeschlagen, ihn zum Justizminister zu machen, schreibt Henrich in seinen Erinnerungen. Konkret sei im angeboten worden, Staatssekretär im DDR-Justizministerium oder Präsident des Obersten Gerichts der DDR zu werden, sagte er dazu. Das habe er aber abgelehnt.
„Ich habe tatsächlich darauf gehofft, dass die DDR einer grundsätzlichen Wandlung unterworfen wird“, beschrieb er das Motiv, warum er das Buch damals schrieb. „Sie war zum Schluss wie eine riesige Apathie-Maschine, die sich einfach so weitergeschleppt hat. Jegliche Kreativität ist untergebuttert worden. Es fehlten auch die subjektiven Aktivitäten.“
Alle, die etwas individuell Kreatives machen wollten, seien sofort in irgendwelche Zirkel und andere Kollektivformen gedrängt worden, erinnerte Henrich im Gespräch. Das sei selbst einem Freund so gegangen, der eigentlich nur als Gärtner leben und arbeiten wollte. Aber weil er Landschaftsgestaltung studiert hatte, sei ihm verweigert worden, eine Gärtnerei zu gründen und zu betreiben. Erst nach 1990 sei ihm das möglich geworden – nachdem er die DDR erst verlassen hatte und nach dem „Mauerfall“ zurückkehrte, berichtete der Anwalt von diesem „typischen Beispiel“.
Aus seiner Sicht gehört zur Vormundschaft, dass die DDR-Bürger sich das in der Mehrheit gefallen ließen. Zugleich sei das mit der Situation des kalten Krieges verbunden gewesen, betonte Henrich. „Man kann ja die DDR nicht für sich allein betrachten. Man muss sie als Bestandteil des sozialistischen Lagers sehen. Die beiden deutschen Staaten waren ja auch nicht souverän.“
Den Menschen in der DDR sei klar gewesen, dass ihre Spielräume in Moskau bestimmt wurden. „Es ist ja kein Zufall, dass das komplette sozialistische Lager fast zeitgleich 1989/90 das Zeitliche gesegnet hat“, sagte Henrich. Für ihn sei die Frage, warum in der Zeit der Existenz der DDR so wenig Widerstand von Einzelnen kam.
Er selbst sieht eine Antwort in der „Tradition der Untertänigkeit“, die die Deutschen kennzeichne, so der Anwalt. Davon künde der Roman „Der Untertan“ von Heinrich Mann. Hinzu komme: In Deutschland gebe es einen Glauben an Recht und Gesetz, der sich durch die Geschichte ziehe und die Menschen präge.
Angesprochen auf die Rolle der Repression in der DDR meinte Henrich, dass diese in den 1980er Jahren nicht mehr war wie in den Jahrzehnten zuvor. „In den 1970er Jahren wurden Sie außerhalb von Berlin oder Leipzig noch für einen politischen Witz für fünf, sechs Monate eingesperrt. Das habe ich selber erlebt.“ Aber die innere Angst sei weiter vorhanden gewesen, erinnerte sich Henrich und ergänzte, dass es eine solche auch heute gebe.
Literaturtipp:
Rolf Henrich: „Ausbruch aus der Vormundschaft – Erinnerungen“
Ch. Links Verlag 2019. 384 Seiten; ISBN: 978-3-96289-035-3; 25 Euro
In Teil 2 am Sonntag geht es um die Gründung des Neuen Forums im September 1989, warum Rolf Henrich vom SED-Parteisekretär zum SED-Kritiker wurde und nicht nur die DDR eine „Fußnote der Geschichte ist. Auch Russland und die USA spielen eine Rolle.